Teresa von Avila
Für uns Christen bilden die 40 Tage zwischen Aschermittwoch und Ostern eine Fastenzeit, obwohl heutzutage nur wenige Christen diese Bezeichnung wörtlich nehmen und spürbar mit dem Verzicht auf Nahrung fasten. Lange – und vielleicht auch heute noch für viele? – verband man mit dem christlichen Fasten vor allem diesen Verzicht, und weniger die nötige innere Verwandlung in der Vorbereitung auf Ostern. Schon als Kinder hatte man uns beigebracht, auf Süßigkeiten zu verzichten (was gerade mir als Rheinländer nach den Bonbon-Ergüssen an Karneval besonders schwer fiel), während unsere Eltern weniger essen, trinken und rauchen sollten. Manche, denen solches Verzichten mehr von ihrer Umgebung als vom eigenen freien Entschluss auferlegt wurde, leiden unter den Folgen noch Jahrzehnte später: Sie dürfen sich in der Fastenzeit (und vielleicht auch darüber hinaus?) nichts gönnen, fechten vor dem Kauf jeder Tafel Schokolade einen komplizierten Kampf mit ihrem Fasten-Gewissen aus, und wenn das Nasch-Ich gewinnt, wird der Genuss doch von einem Hauch schlechten Gewissens getrübt.
Die religiöse Zielrichtung des Fastens ging/geht dabei nicht selten verloren. Gott spricht aus dem Mund des Propheten Jesaja: „Das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, … jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen“ (58,6.7). Und Jesus sagt: "Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler ... Du aber salbe dein Haar, wenn du fastest, und wasche dein Gesicht, damit die Leute nicht merken, dass du fastest, sondern nur dein Vater, der auch das Verborgene sieht" (Mt 6,16.18).
Macht es dann überhaupt noch Sinn, heute zu fasten (wohlgemerkt aus religiösen Gründen, nicht gegen Übergewicht oder aus anderen Gesundheits- oder Demonstrationsgründen)? Wer auf Schokolode, Alkohol oder Zigaretten in der Fastenzeit bewusst verzichten möchte, dem mag dies (dem möge dies) helfen, den Blick auf das Wesentliche zu schärfen, sich frei zu machen von Konsumgewohnheiten/-zwängen, den Blick auf sich selbst und seinen Nächsten frei zu machen. Sinn des Fastens ist nicht Verzicht um des Verzichtes willen, erst recht nicht ein Wegschieben des Materiellen, als wäre die Materie (oder der Genuss) per se schlecht.
Wenn Christen in der Fastenzeit auf (grundsätzlich erlaubte) Vergnügen verzichten, dann deshalb, weil ihre kleinen „Nein!“ ihre eigene Wahrnehmung und ihre innere Einstellung verändern können. Aber nicht zwangsläufig müssen … Und Veränderungen von Wahrnehmung, Einstellungen, Werten und letztlich Handeln gegenüber sich selbst und dem Nächsten können auch auf anderem Wege, ohne Fasten, erreicht werden. Es macht daher ebenso wenig Sinn, zu fasten, wenn diese Veränderungen nicht dadurch gefördert werden, wie es zwecklos (und wenig christlich) ist, mit dem Finger auf diejenigen zu zeigen, die während der Fastenzeit nicht auf erlaubte Genüsse verzichten. Auf die Frage „Magst du ein Bier?“ mit der entsetzt wirkenden Antwort „Aber nein, es ist doch Fastenzeit!“ und einem geradezu vorwurfsvollen Blick auf den Fragenden zu reagieren, entspricht daher eher nicht Mt. 6,16. Kommt dir aber einmal die Idee, jetzt auf diese Zigarette, das Bierchen oder welchen Genuss auch immer bewusst zu verzichten, dann gönne dir auch solche Fastenfreude, lass sie dir nicht vermiesen von scheinverständigen Argumenten wie dem, dass dein Verzicht ja doch niemandem hilft. Dein Verzicht hilft dann auf jeden Fall dir, mit wacherem Sinn deine wirklichen Bedürfnisse wahrzunehmen und deinem Nächsten nahe zu sein.
Sinn und Ziel des Fastens (sowie der auf andere Weisen initiierten christlichen Werte- und Lebensorientierungen) kann man also nur in Verbindung mit dem Gebot der Nächstenliebe erkennen: Jesus sagt, dass das Gebot der Nächstenliebe ebenso wichtig ist wie das der Gottesliebe (Mt 22,39). "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (3.Mos 19,18; Mt 19,19). Das heißt auch: Liebe dich selbst, aus vollem Herzen! Schwing dich ein in Gottes Schöpferliebe zu dir, und von diesem Schwung lass dich weitertragen zu deinem ebenso gottgeliebten Nächsten.
Fasten in Liebe kann heute z.B. bedeuten: Verzicht auf eigene Ansprüche! Verzicht darauf, seinen Willen unbedingt durchsetzen zu wollen! Dem Nächsten die Freiheit zu lassen, das zu tun, was ihm gut tut und von dem er denkt, dass es auch anderen gut tut (auch wenn es mir selber nicht gefällt, nicht passt). In der alt-katholischen Gemeinde Wilhelmshaven gilt daher der liberale Grundsatz „Jeder darf, aber keiner muss …" (diese oder jene Aktivität mitmachen oder initiieren). Wie schwer dabei der Verzicht darauf, anderen seine Vorstellungen vorschreiben zu wollen, sein kann, das erfahren wir trotz aller guter Vorsätze immer wieder. Mancher reagiert frustriert oder zieht sich gar zurück, weil in dieser oder jener Detailfrage des Gemeindelebens seine Vorstellungen, seine Ansprüche von der Gemeinschaft der Gemeinde nicht erfüllt werden. Dabei geht es meist keinesfalls um fundamentale Glaubensfragen (in denen, eben im Notwendigen, durchaus Einheit besteht), sondern um - gemessen an der großen Aufgabe einer Kirchengemeinde - Banalitäten. Wie schwer ist es doch, den alt-katholischen Leitsatz „im Notwendigen Einheit, in Zweifelsfragen Freiheit, in allem die Liebe" in der alltäglichen Gemeindearbeit zu leben.
Wem es hilft, dass er die Kraft zu einem solchen Verzicht, zum Sich-zurück-nehmen, zur Toleranz gegenüber Anders-Denkenden und Anders-Handelnden in Detailfragen der Gemeinde, via Fasten „trainiert“, für den mag der Verzicht aufs Bierchen oder die Schokolade in der Tat eine gute Übung zur Stärkung der seelischen Muskeln, die weitaus schwierigere Verzichte als Gaumen & Magen stemmen müssen, sein.
Letztlich werden wir Christen nicht am Verzicht, sondern an der Erfüllung des Willens Gottes durch uns und durch unsere Gemeinde als Gemeinschaft von Christen gemessen. So verstanden darf die Fastenzeit gerne auch länger als 40 Tage, nämlich das ganze Jahr über andauern …
Prof. Dr. Torsten Kirstges
(Text von März 2014. Der Text gibt die persönliche Meinung des Autors wieder; Quellen sind u.a. Informationen der KGSpee und diverse Predigttexte, aus denen auch einige Textstellen übernommen wurden.)
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